Brauchen wir soziale Kontakte und die Gesellschaft von Familie, Freunden und Bekannten, um glücklich zu sein? Dieser Frage möchten wir hier auf den Grund gehen und stellen dabei interessante Forschungsergebnisse aus den Sozialwissenschaften vor. Außerdem erklären wir, warum einige Menschen mehr, andere weniger sozialen Umgang benötigen.
Der Mensch – ein soziales Lebewesen?
Der Mensch wird gemeinhin als soziales Lebewesen verstanden. Wären wir von Natur aus Einzelgänger, würden wir uns nicht in Gemeinschaften, am Arbeitsplatz, in Freundeskreisen oder in Familien zusammenschließen.
Gerade in Zeiten von Social Distancing wird uns dies nur einmal mehr bewusst: so haben aktuelle Forschungen gezeigt, dass 3 von 4 Teams im Homeoffice aufgrund eines mangelhaften (sozialen) Austauschs scheitern.[1]
Es scheint, als ob die meisten Menschen es genießen, in Gesellschaft zu sein und sich mit anderen auszutauschen. Aber brauchen wir uns wirklich gegenseitig? Und was ist mit introvertierten Menschen, die es vorziehen, einen großen Teil ihrer Freizeit allein zu verbringen, anstatt sich an sozialen Aktivitäten zu beteiligen?
Mit anderen Worten: Braucht der Mensch wirklich soziale Kontakte?
Obwohl wir Menschen im Allgemeinen als soziale Wesen verstanden werden, kann man durchaus feststellen, dass einige von uns viel sozialer sind als andere. Dies ist der Hauptunterschied zwischen den zwei Menschentypen, die als Introvertierte und Extrovertierte bekannt sind.
- Auf der einen Seite gibt es Introvertierte, die ihre Freizeit lieber alleine verbringen (indem sie beispielsweise Kreuzworträtsel lösen). Sie fühlen sich manchmal emotional ausgelaugt, wenn sie mit anderen interagieren.
- Auf der anderen Seite gibt es die Extrovertierten, die gerne mit anderen Menschen zusammen sind und in sozialen Situationen aufblühen, aber in Momenten der Einsamkeit eher unzufrieden sind.
Wie uns Einsamkeit zu schaffen macht
Was passiert mit Menschen, die für längere Zeit von Anderen abgeschottet leben, sogar länger, als der durchschnittliche Introvertierte? Wären sie dazu imstande, ohne den menschlichen Kontakt normal zu funktionieren, oder hätte die ständige Einsamkeit und das Alleinsein einen erheblichen Einfluss auf die allgemeine körperliche und geistige Gesundheit?
Im Buch „Cause…and How it Doesn’t Always Equal Effect“ von Gregory Smithsimon wird unter anderem die Frage erörtert, ob eine Person in dieser Situation in der Lage wäre zu funktionieren oder nicht.[2]
Als Beispiel nennt Smithsimon die Geschichte von Robinson Crusoe, geschrieben von Daniel Defoe im Jahr 1919. Der Originalroman erzählt die Geschichte eines Mannes, der nach einem Schiffbruch auf einer einsamen Insel strandet und infolgedessen gezwungen ist, völlig autark zu werden, um zu überleben.
Während viele diese Idee der perfekten Einsamkeit romantisieren, weist Smithsimon auf etwas Interessantes hin: Es wird angenommen, dass die Figur des Robinson Crusoe von einer realen Figur namens Henry Pitman inspiriert wurde. Wie Crusoe im Roman strandete Pitman auf einer Insel, aber nicht allein: Dreizehn andere Überlebende erlitten mit ihm ebenfalls Schiffbruch.
Wäre Pitman wirklich allein gewesen, wie die Figur, der er später als Vorbild dienen sollte, wären die Dinge vielleicht nicht so gut für ihn gelaufen.
Soziale Isolation und ihre Auswirkungen
In einem Artikel in der Zeitschrift „Psychology Today“ äußert sich der Therapeut Jonathan Foiles auch zu der Frage, ob eine Person in der Lage wäre, in völliger Isolation zu überleben, ohne geistig krank zu werden.[3]
Foiles berichtet darin von der Arbeit mit mehreren Patienten, die der Einzelhaft ausgesetzt waren. Einer Strafe, die in Gefängnissen und ähnlichen Einrichtungen angewandt wird und eine Person für längere Zeit von allen anderen menschlichen Kontakten abschneidet.
Laut Foiles können die Auswirkungen von Langzeitisolationshaft zu psychischen Symptomen wie Halluzinationen, Stimmungsschwankungen und Verlust der Impulskontrolle führen, sowie zu anderen Formen langfristiger psychologischer Folgeschäden.
Darüber hinaus weist er darauf hin, dass solche Erfahrungen nicht nur von Insassen der Einzelhaft gemacht werden; die negativen Auswirkungen der Langzeitisolation können zum Beispiel auch von Krankenhauspatienten empfunden werden, die ihr Bett für längere Zeit nicht verlassen können.
Ein weiterer Faktor, der laut Foiles für die negativen Auswirkungen der Isolation verantwortlich ist, sind die rasanten technologischen Fortschritte und Möglichkeiten, die wir als Spezies für uns selbst geschaffen haben.
Der Therapeut weist zwar darauf hin, dass viele unserer technischen Geräte nützlich und unterhaltsam sein können, aber sie tragen eben auch dazu bei, dass wir immer weniger von Angesicht zu Angesicht mit anderen Menschen interagieren.
Foiles führt dabei aus, wie moderne Annehmlichkeiten wie Fernsehen, Spielekonsolen und das Internet es für uns immer verlockender gemacht haben, zu Hause zu bleiben, sich zurückzuziehen und für sich zu bleiben, und das auf Kosten unserer geistigen Gesundheit durch den Mangel an Sozialisierung.
Außerdem weist Foiles in seinem Artikel darauf hin, dass der Aufstieg des Internets und der Mangel an persönlichen, face-to-face Interaktionsebenen die Verbreitung von Fehlinformationen und Verschwörungstheorien begünstigt habe, was er als „eine armselige Art der Gemeinschaftsbildung“ beschreibt, die „die Welt in diejenigen mit Geheimwissen und die Massen ohne trennt“.
Nach Auffassung Foiles sollten Menschen die Möglichkeit haben, sich auszutauschen, um ein gemeinsames Verständnis der Welt um sie herum zu bilden, etwas, das nicht durch die zunehmende Isolation in der Gesellschaft erreicht werden kann.
Er merkt jedoch an, dass die menschliche Wahrnehmung von Natur aus subjektiv ist und dass das „gesunde“ Mindestmaß an sozialer Interaktion von Person zu Person variieren kann.
Das wirft natürlich eine völlig neue Frage auf: Wenn der Mensch soziale Interaktion braucht, um richtig zu funktionieren, warum gibt es dann überhaupt die Aufteilung in introvertierte und extrovertierte Menschen?
Introvertiert & extrovertiert – ein Clou der Evolution?
Wenn Menschen zusammen besser funktionieren, als wenn sie allein sind, dann scheint es doch eher widersprüchlich zu sein, dass es Menschen mit einem natürlichen Wunsch nach Einsamkeit gibt.
In einem weiteren Artikel geht der Psychologieprofessor Glenn Geher genau dieser Frage nach – in der Hoffnung, herauszufinden, wie das Phänomen der Introversion in das Gesamtkonzept der menschlichen Evolution passt.[4]
Nach seinen Untersuchungen stellte Geher etwas Interessantes fest: Grundlegende Persönlichkeitsmerkmale wie Extraversion und emotionale Stabilität scheinen normal und einigermaßen gleichmäßig über menschliche Populationen verteilt zu sein.
Mit anderen Worten: er stellt fest, dass die meisten Menschen irgendwo in der Mitte der Introvertiert-Extrovertiert-Skala liegen, während eine vergleichsweise kleinere Untergruppe von Individuen auf das eine oder das andere Ende des Spektrums fällt.
Deshalb sind wir so unterschiedlich sozial
Basierend auf dem, was wir bisher über menschliche Interaktion gelernt haben, erscheint dies zunächst ungewöhnlich: Wenn Sozialisation wichtig für uns ist, machte es dann nicht mehr Sinn, wenn jeder Mensch extrovertiert wäre?
Geher vermutet, dass der Grund dafür darin liegen könnte, dass Introversion und Extroversion aus evolutionärer Sicht gleichwertig sind, wobei jeder der beiden Persönlichkeitstypen seine eigenen Stärken und Schwächen mitbringt.
Während Extrovertierte kontaktfreudiger und geselliger sind, sind sie statistisch gesehen auch anfälliger für Unfälle als Introvertierte, die vergleichsweise weniger anfällig für diese Dinge sind.
Als Ergebnis kommt Geher zu dem Schluss, dass die menschliche Zivilisation am besten von einer gesunden und relativ gleichmäßigen Mischung unterschiedlicher Persönlichkeitstypen profitiert, in einem Prozess, den er als ausgleichende Selektion bezeichnet.
Daraus lässt sich ableiten, dass sowohl Introvertierte als auch Extrovertierte ihre eigenen, einzigartigen Fähigkeiten und Eigenschaften in die Evolution des Menschen einbringen, und dass beide dazu dienen, die Schwächen des jeweils anderen in sozialen Gruppen auszugleichen.
Quellen und Weiterführendes
[1] Virtuelles Arbeiten: das 1×1 für virtuelle Teams in 2021
https://teamevents-online.de/virtuelles-arbeiten-in-teams/
[2] “Cause…and How it Doesn’t Always Equal Effect” von Gregory Smithsimon
https://books.google.dk/books/about/Cause.html?id=-S0JuQEACAAJ
[3] “Do Humans Need Each Other?” von Jonathan Foiles
https://www.psychologytoday.com/intl/blog/the-thing-feathers/201904/do-humans-need-each-other
[4] “Extraversion kills” von Glenn Geher
https://www.psychologytoday.com/intl/blog/darwins-subterranean-world/202004/extraversion-kills